Tafel 13


Der Goethes Weg

Johann Wolfang von Goethe, der grosse deutsche Dichter (1749 - 1832) stieg am 25. Oktober 1779 auf den Dent de Vaulion

Der Bericht seines Aufstiegs ist erstaunlich. In einer Zeit in der man sich auf ungefähre Beschreibungen beschränkte, überrascht der Autor mit einem präzisen Bericht. Alles stimmt, ausser der Tatsache, dass man die Erhebung der Orbe nicht vom Gipfel des Dent de Vaulion sehen kann, da sie vom Crêt des Alouettes verdeckt wird.  

 

Goethe durchreiste die Schweiz und besuchte das Hochtal der Orbe im Herbst 1779. Er wurde von seinem Freund, dem Prinzen Karl-August von Sachsen-Weimar und dem Baron von Wedel, dem Großmeister für Gewässer und Wälder begleitet. Der Dichter war 30 Jahre alt, der Prinz 22. Goethe verband zu diesem Zeitpunkt eine zärtlichere Freundschaft mit Frau von Stein, einer Hofdame zu Weimar.  Über jeden Abschnitt seiner Reise sandte er ihr einen Bericht. Diese Briefe wurden von ihm selbst zusammengestellt und unter dem Titel Briefe aus der Schweiz veröffentlicht. Sie wurden von Jacques Porchat, einem Professor der Universität in Lausanne, um 1840 ins Französische übersetzt. 

 

Von Rolle aus ging es am Nachmittag des 24. Oktobers zu Pferde los, und die Reisenden kamen bei Sonnenuntergang am Marchairuz-Pass an. Anschliessend ging es auf der anderen Seite wieder herunter : Wir glaubten unter uns einen großen See zu erblicken, indem ein tiefer Nebel das ganze Thal, was wir übersehen konnten, ausfüllte.

 

Die Beschreibung, die Goethe über Les Brassus abgibt, nachdem seine Reisegruppe dort ein Unterschlupf gefunden hatte, hat während langer Zeit die Aufmerksamkeit seiner Bewunderer geweckt. Das Haus, welches er beschreibt, erkennen wir noch : Die Begleitung des Hauptmanns verschaffte uns Quartier in einem Hause, wo man sonst nicht Fremde aufzunehmen pflegt. Es unterschied sich in der innern Bauart von gewöhnlichen Gebäuden in nichts, als daß der große Raum mitten inne zugleich Küche, Versammlungsplatz, Vorsaal ist, und man von da in die Zimmer gleicher Erde und auch die Treppe hinaufgeht. Auf der einen Seite war an dem Boden auf steinernen Platten das Feuer angezündet, davon ein weiter Schornstein, mit Brettern dauerhaft und sauber ausgeschlagen, den Rauch aufnahm. In der Ecke waren die Thüren zu den Backöfen. Der ganze Fußboden übrigens gedielet, bis auf ein kleines Eckchen am Fenster um den Spülstein, das gepflastert war. Übrigens rings herum, auch in der Höhe über den Balken, eine Menge Hausrath und Geräthschaften in schöner Ordnung angebracht, alles nicht unreinlich gehalten.

 

Es handelt sich hierbei um eine hervorragende Beschreibung eines Hauses von Combière dieser Epoche mit seinem grossen, zentralen Kamin. Am nächsten Tag reisten Goethe und seine Begleiter unter Führung eines waadtländischen Försters weiter. Sie erklommen den Gipfel des Dent de Vaulion :

 

Wir ritten zurück über die Brücke nach Pont, nahmen einen Wegweiser auf La Dent. Im Aufsteigen sahen wir nunmehr den großen See völlig hinter uns. Ostwärts ist der Noir Mont seine Grenze, hinter dem der kahle Gipfel der Dole hervorkommt, westwärts hält ihn der Felsrücken, der gegen den See ganz nackt ist, zusammen. Die Sonne schien heiß, es war zwischen Eilf und Mittag. Nach und nach übersahen wir das ganze Thal, konnten in der Ferne den Lac des Rousses erkennen, und weiter her bis zu unsern Füßen die Gegend durch die wir gekommen waren, und den Weg der uns rückwärts noch überblieb. Im Aufsteigen wurde von der großen Strecke Landes und den Herrschaften, die man oben unterscheiden könnte, gesprochen (...) allein uns war ein ander Schauspiel zubereitet. Nur die hohen Gebirgketten waren unter einem klaren und heitern Himmel sichtbar, alle niederen Gegenden mit einem weißen wolkigen Nebelmeer überdeckt, das sich von Genf bis nordwärts an den Horizont erstreckte und in der Sonne glänzte. Daraus stieg ostwärts die ganze reine Reihe aller Schnee- und Eisgebirge, ohne Unterschied von Namen der Völker und Fürsten, die sie zu besitzen glauben, nur Einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unterworfen, der sie schön röthete. Der Montblanc gegen uns über schien der höchste, die Eisgebirge des Wallis und des Oberlandes folgten, zuletzt schlossen niedere Berge des Cantons Bern. Gegen Abend war an einem Platze das Nebelmeer unbegrenzt zur Linken in der weitsten Ferne zeigten sich sodann die Gebirge von Solothurn, näher die von Neufchâtel, gleich vor uns einige niedere Gipfel des Jura, unter uns lagen einige Häuser von Vaulion, dahin die Dent gehört und daher sie den Namen hat. Gegen Abend schließt die Franche-Comté mit flachstreichenden waldigen Bergen den ganzen Horizont, wovon ein einziger ganz in der Ferne gegen Nordwest sich unterschied. Hier ist die Spitze, die diesem Gipfel den Namen eines Zahns gibt. Er geht steil und eher etwas einwärts hinunter, in der Tiefe schließt ein kleines Fichtenthal an mit schönen Grasplätzen, gleich drüber liegt das Thal Valorbe genannt, wo man die Orbe aus dem Felsen kommen sieht.

Ungern schieden wir. Einige Stunden längeren Aufenthalts, indem der Nebel um diese Zeit sich zu zerstreuen pflegt, hätten uns das tiefere Land mit dem See entdecken lassen; so aber musste, damit der Genuß vollkommen werde, noch etwas zu wünschen übrigbleiben. Abwärts hatten wir unser ganzes Thal in aller Klarheit vor uns, stiegen bei Pont zu Pferde, ritten an der Ostseite den See hinauf, kamen durch l'Abbaye de Joux...

 

Die Reisenden kamen wieder in das Haus zurück, in dem sie am Vorabend schon Gastfreundschaft genossen hatten.

  

Der Ruf des Dichters, der sich später über die ganze Welt erstreckte, war damals noch nicht verbreitet; aber der Bergführer, den die Berner Behörde (das Waadtland unterstand damals noch der Berner Hoheit) bestimmt hatte, konnte weder das hohe Niveau des Dichters noch das des Prinzen ignorieren !

 

Unter anderem erklommen auch die folgenden Personen den Dent de Vaulion : 

 

Jean-Antoine Deluc, 1778

Horace-Benedict de Saussure, 1779

Ami Mallet aus Genf, 1786

Yvan Antonovich, 1789

Henri Venel d’Orbe, 1795

 

Sie hinterliessen alle einen Bericht über ihren Aufstieg.

 

 

Jean-André Deluc mit seinen Lettres physiques et morales sur les montagnes von 1778  verdient unsere besondere Aufmerksamkeit.  Er wurde 1727 in Genf geboren und starb in Windsor in 1817, er interessierte sich vor allem für verschiedene Lichteffekte die durch Wetterbedingungen ausgelöst werden. Der Nebel war seine besondere Leidenschaft! Seine Prosa ist klassisch und typisch für das 18. Jahrhundert wo man sich auf die Schreibkunst verstand; die Beschreibung seines Spaziergangs am Dent de Vaulion, den man damals noch Chichevaux nannte, ist ein litterarisches Vergnügen :

 

Wir hatten vorgeschlagen, früh von zu Hause aufzubrechen, aber da die Nacht kalt gewesen war, stieg vom See her Nebel auf & alles war mit weissem Tau belegt. Wir mussten darum warten, bis die Sonne die Luft aufgewärmt hatte.  Daher konnten wir gemütlich den Wagen vorbereiten, der uns auf den höchsten Gipfel bringen sollte, der Karren wurde der „Dreipferdezahn“ genannt. Dieser Wagen war eine andere Art als derjenige, der uns nach Grindelwald & nach Chaumont gebracht hatte; ein langer Korb auf vier Rädern welchen man normalerweise dazu verwendet, Kohle in das Nachbarstal zu bringen; mit Stroh und Matratzen wurde der Karren jedoch in einen angenehmen und sauberen Zustand versetzt.

 

Die Seite des Gipfels, den wir ersteigen wollten, ist gegenüber dem See und der Alpen; er wird von Wiesen und Wäldern bedeckt. Als wir nach und nach höher kamen, entdeckten wir die angenehmen Täler der Jurakette welche auf Schweizer Seite alle von kleinen Weilern besiedelt werden; und dann den Lac de Joux, mit seinen Wäldern & den Einwohnern um ihn herum. Sie beleben die Landschaft genauso, wie der von einem schönen Rahmen, der einen Spiegel umgibt. Der Morgentau hatte den Duft der Kräuter nichts anhaben können; die Wiesen waren davon bedeckt & in unser Wagen, der darüberfuhr, füllte sich die Luft nach und nach mit ihrem Parfüm.

 

Wir gelangten über schöne Wege zu einem Anblick, für welchen sich auch schlechte Wege gelohnt hätten. Während alle Spitzen des Juras, welche wir nach und nach entdeckten, klar in die Morgenluft herausragten, war das Tal, genau wie am Vortag, von Wolken bedeckt.  Aber ihr Anblick war anders, sowohl wegen der unterschiedlichen Position der Sonne als auch wegen unseres höheren Standpunktes, der unseren Anblick über die luftige Ebene erweiterte & die Gletscherkette der Alpen erhöhte indem er sie von den Felsen stärker abhob.

 

Der Rest ist ein einziges langes Gedicht zur Ehre dieses schönen und unfassbaren Berges und seiner ihn umgebenden Natur.